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Warum Entstigmatisierung von Sexarbeit fundamental ist

 Oft wird Sexarbeit als ältestes Gewerbe der Welt betitelt. Umso bemerkenswerter scheint es, dass sich bis heute bei Diskussionen um Sexarbeit die Gemüter erhitzen und sich die Meinungen spalten. Grund dafür ist, dass die Thematik der Sexarbeit heikle Themen wie Machtverhältnisse, gesellschaftliche Konflikte, ökonomische und Geschlechterverhältnisse, Sexualität, Migration und Rassismus auf komplexe Art berührt.

 

Sexarbeit ist heute meist eine legale Tätigkeit. In der Gesellschaft wird Sexarbeit jedoch ausgegrenzt und ist wenig anerkannt. Das heisst, Sexarbeit und Sexarbeiter*innen werden zwar akzeptiert, aber moralisch verurteilt. 

In den Köpfen der Menschen ruft der Begriff Sexarbeit oftmals negative Bilder hervor, die jedoch wenig mit der Realität zu tun haben. Die Bilder sind nicht nur negativ konnotiert, sondern oft auch abwertend. Diese Negativbewertung von Sexarbeit und den Ausübenden führt zu Stigmatisierungen, welche für die Sexarbeiter*innen äusserst belastend sind. In den Medien werden in Bezug auf Sexarbeit vorzugsweise Themen wie  Gewalt, gesundheitliche Probleme, Drogensucht sowie Gesetze diskutiert. Die positiven Aspekte, wie beispielsweise finanzielle Unabhängigkeit, werden totgeschwiegen.

Ausschnitt aus einer der seltenen Studien, in welcher tatsächlich MIT Sexarbeiter*innen gesprochen wurde, statt nur über sie.

Viele der Befragten empfinden Wut und Schmerz über das negative Ansehen ihrer Tätigkeit durch die Öffentlichkeit. Sie sind nicht bereit, die Etikettierung anzunehmen. Sie betrachten ihre Tätigkeit eher pragmatisch oder rational, denn die Arbeit an sich ist weniger wichtig, als die Tatsache, dass sie ökonomisch unabhängig sind und ihre Familien finanziell unterstützen können (Bingham et al., 2011, S. 57).
Einige der befragten Frauen betrachten sich als eine Art Sozialarbeiterinnen, indem sie Menschen helfen, Stress abzubauen und durch ihre sozialen Dienstleistungen Kriminalität undVergewaltigung in der Gesellschaft minimieren.
Die Angst sich als Sexarbeiterin zu outen und dadurch zum Zielobjekt für Stigmatisierung zu werden, ist in den Interviews ein dominantes Thema. Die Mehrheit der Befragten passt ihr Verhalten im Alltag an, um ihre wahre Identität vor der Familie und / oder der Gesellschaft zu verstecken. Oft ist die Angst vor Stigmatisierung so gross, dass sich diese Frauen nicht einmal den Ärzten als Sexarbeiterinnen zu erkennen geben (Bingham et al., 2011, S. 58). Einige der Befragten outen sich gegenüber der Familie, sprechen jedoch sonst mit niemandem darüber.
Andere wiederum verschweigen ihre Tätigkeit komplett. Die Angst vor Gespött, das nicht Akzeptieren ihrer Tätigkeit durch die eigene Familie oder das Risiko, dass ihre Ehemänner oder andere Familienangehörige das Gesicht in der Öffentlichkeit verlieren könnten, sind genannte Gründe für die Verheimlichungen (Bingham et al., 2011, S. 58). Die Anpassung des Verhaltens aus Angst vor feindlichen Reaktionen durch Familie und Freunden geschieht u. a. durch Lügen oder Wegzug von zu Hause.

Entstigmatisierung

Aus Sicht der Sexarbeiter*innen, ist die Ausgrenzung meist ein grösseres Problem als die Gewalt. Die Tätigkeit ist so stigmatisiert, dass die meisten Sexarbeiter*innen ein Doppelleben führen.
Das permanente Verheimlichen ist mit einer psychischen Belastung verbunden, die krank machen kann. Ein entscheidender Schritt des Empowerments sind daher Bestrebungen für mehr gesellschaftliche Anerkennung.
Um dies zu erreichen, braucht es eine Veränderung in den Köpfen. Somit fragt sich: Warum ist Sexarbeit so sehr stigmatisiert? Welche Hintergründe hat die Ausgrenzung? Was spricht dafür oder dagegen, Sexarbeit als «Arbeit wie jede andere» zu anerkennen? Um die Stigmatisierung zu verstehen und ihr entgegenzuwirken, ist es wichtig, Sexarbeit nicht isoliert zu betrachten.

Viele Beziehungen zwischen Männern und Frauen oder zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren weisen kommerzielle Aspekte auf. Neben Sexarbeit stehen etwa Geldheiraten oder teure Einladungen, bei denen eine sexuelle Dienstleistung erwartet wird. Im Fall der Sexarbeit ist Sex gegen Gegenleistung in Verruf.
Im Zusammenhang der Ehe kann der kommerzielle Aspekt ebenso wichtig sein, er wird jedoch weniger abgewertet. Die fliessenden Grenzen gelten auch für die Geschlechterverhältnisse. Sexarbeit bedeutet nicht zwangsläufig, dass ein Mann sexuelle Dienstleistungen einer Frau kauft. Es gibt Sexarbeit von Frauen für Frauen, Strichjungen, Europäerinnen, die beispielsweise bei kenianischen beach boys Sex kaufen.

Die Stigmatisierung von Sexarbeit steht in engem Zusammenhang mit Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern. Die Philosophin Eva Nussbaum vertritt dazu die provokative und plausible These, dass die Stigmatisierung auf «eine hysterische Angst vor der zügellosen weiblichen Sexualität» zurückgeht.

Moralvorstellungen darüber, wie weibliche Sexualität (nicht) sein darf, hängen immer mit dieser Angst zusammen. Die Auswirkungen zeigen sich in der Gesetzgebung zahlreicher Länder: die Angst zieht Kontrollmassnahmen bis hin zur Kriminalisierung nach sich.

Angesichts der gesellschaftlichen Normen überrascht nicht, dass praktische Massnahmen (ausser in Schweden) einseitig bei Sexarbeiterinnen ansetzen: Sie zielen darauf, weibliche Sexualität ausserhalb der Norm einzudämmen. Ein Grund für die Sanktionierung nonkonformer weiblicher Sexualität ist die Vorstellung, dass Frauen und ihre Sexualität männliche Beherrschung brauchen. Damit verwandt ist die Vorstellung, Frauen sollten Männern als Ventil für sexuelle Begierden zur Verfügung stehen. Beide Annahmen sind frauenfeindlich und mit Ängsten vor einer ungezügelten weiblichen Sexualität verbunden. Sie führen zur Bestrebung, eine vermeintlich gefährliche weibliche Sexualität zu kontrollieren.

Das Kontrollbestreben hält eine sexuelle Hierarchie zwischen den Geschlechtern aufrecht. Würde die Hierarchie und die damit verschränkte Stigmatisierung abgebaut, könnten sexuelle Dienstleistungen ihren Sonderstatus gegenüber anderen Tätigkeitsfeldern der Care-Ökonomie verlieren. Damit gäbe es weniger Mehrfachdiskriminierung, von der viele Frauen im Sexgewerbe betroffen sind: als Sexarbeiterinnen, als Frauen und als Migrantinnen. Wenn Stigmatisierung und Diskriminierung verschwinden, ist der Schritt zur Sexarbeit als Arbeit wie jede andere nicht mehr gross.

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